Zukunftsforschung

 

Wie Zukunftstrends ermittelt werden

Noch vor 150 Jahren war es undenkbar, dass sich gebildete Menschen mit zukünftigen Entwicklungen intensiv befassen und öffentlich Vorhersagen machen würden. Niemand sah damals voraus, dass einige Jahrzehnte später z.B. das Auto (1885), das lenkbare Luftschiff (1900), das Flugzeug (1903: Motorflug), der Rundfunk (1923), das Fernsehen (1929), die Perlon- und Nylonfaser (1938), die Fernrakete V2 (1942), der Kernreaktor (1942) und die Atombombe (1945) erfunden werden würden. Wohl kein Forscher vermutete damals, dass Naturwissenschaften und Industrie einen unglaublichen Aufschwung erleben, immer mehr Menschen in die Städte strömen, die Straßen asphaltiert und mit Lampen versehen, die Kaiser- und Königreiche durch Demokratien ersetzt, zwei Weltkriege ausbrechen und die Kommunisten in Russland, China und weiteren Ländern an die Macht kommen würden.

Heute ist die Situation etwas anders. So ist mit der Zukunftsforschung ein interdisziplinäres Arbeitsfeld entstanden, in dem vor allem Wissenschaftler/innen und Manager/innen tätig sind. Wohl gibt es an Universitäten nur wenige Lehrstühle für Futurologie, aber viele Wissenschaftler/innen befassen sich in ihrem Arbeitsfeld – sei es z.B. Klimatologie, Volkswirtschaft, Biologie, Ozeanographie oder Architektur – mit Zukunftsprognosen. Behörden wie Ministerien und Statistikämter, Konzerne, Unternehmen, Banken, Unternehmensberatungen und supranationale Organisationen wie UN, Europäische Kommission und OECD betreiben Zukunftsforschung.

Inzwischen gelingt es recht gut, in der Rückschau erkennbare Trends in die Zukunft fortzuschreiben und dabei beispielsweise zu berücksichtigen, dass sich die technische Entwicklung immer weiter beschleunigt. Dennoch bleiben große Unsicherheitsfaktoren, und so beschreiben professionell arbeitende Zukunftsforscher/innen zumeist mehrere Zukunftsszenarien für ihren Bereich, z.B. ein positives, ein negatives und ein realistisches.

Die Zukunftsforschung verwendet folgende Methoden, die zu mehr oder minder verlässlichen Prognosen führen:

  • Brainstorming: In einer Kleingruppe werden Ideen generiert, die sich auf die (nahe) Zukunft beziehen. Ideen werden nicht kritisiert, können aber hinsichtlich der Sinnhaftigkeit, Umsetzbarkeit, Wahrscheinlichkeit usw. diskutiert werden. Am Brainstorming können sich auch alle Mitarbeiter/innen eines Unternehmens oder einer Organisation via Intranet oder auf andere Weise beteiligen.
  • Befragung von Fachleuten: Expert/innen werden bezüglich zukünftiger Entwicklungen auf ihrem Fachgebiet befragt (persönlich, per Telefon oder per Fragebogen). Beim mehrstufigen Delphi-Prozess werden die Befragungsergebnisse an die Expert/innen weitergeleitet, sodass sie erneut Stellung nehmen können und ein Konsens approximiert wird. Dieser Prozess kann über Jahre hinweg fortgesetzt werden.
  • Scanning: Artikel in Zeitungen, in Zeitschriften, in Sammelbänden und auf Websites, die sich mit zukünftigen Entwicklungen befassen, werden systematisch analysiert.
  • Trendanalyse und -monitoring: Ein bestimmter Trend, der im Rückblick erkennbar ist, wird hinsichtlich seiner Natur, seiner Ursachen, seiner Geschwindigkeit und seiner Auswirkungen untersucht. Der Trend wird in den folgenden Jahren sorgfältig weiterverfolgt. Liegen genügend Daten vor, kann er in die Zukunft fortgeschrieben werden.
  • Modelle und Simulationen: Eine Vielzahl von Entwicklungen, die einander beeinflussen, wird in einem (Computer-) Modell nachgebildet. Wenn einzelne Faktoren verändert werden, kann erfasst werden, wie sich dies auf die anderen Variablen auswirken würde.
  • Entwicklung und Analyse von Szenarien: Auf der Grundlage vorhandener Daten werden verschiedene Möglichkeiten ausgearbeitet, in welche Richtungen ein Trend weiter verlaufen könnte, welche Auswirkungen bestimmte (unterschiedliche) Entscheidungen hätten oder welche Konsequenzen externe Ereignisse haben könnten. In der Regel werden mehrere Szenarien entwickelt.
  • Visionen: Ausgehend von einer Analyse vergangener Entwicklungen und der gegenwärtigen Situation werden Entwürfe einer wünschenswerten Zukunft (für die Menschheit, ein Unternehmen, einen Verband) erarbeitet. Dann können Wege diskutiert werden, wie eine solche Zukunft erreicht werden könnte.

Mit Hilfe dieser Methoden wurden die auf dieser Website beschriebenen Trends ermittelt. Da es zu einer Thematik manchmal einander widersprechende Prognosen gibt, werden gelegentlich zwei unterschiedliche Szenarien wiedergegeben.

Wild Cards

Weitgehend unvorhersehbar sind aber auch heute noch Naturkatastrophen, Kriege oder große politische Umwälzungen – die sogenannten „Wild Cards“: So könnte es mit dem Wirtschaftswunder in Ost- und Südasien ein schnelles Ende haben, wenn es in China zu einer neuen Kulturrevolution käme oder wenn in Indien Hunderte von Millionen Menschen revoltieren würden, weil sie vom Wirtschaftswachstum nicht profitiert haben.

Dass auch eine Pandemie eine Wild Card ist und innerhalb weniger Wochen das Weltgeschehen prägen kann, zeigt die Corona-Krise. Um den rasanten Anstieg der Zahl von mit dem Coronavirus infizierten Personen abzubremsen, wurde in den meisten Ländern im Frühjahr 2020 eine sich in voller Fahrt befindende Wirtschaft „vor die Wand gefahren“ und das gesellschaftliche Leben radikal eingeschränkt: Viele Konzerne, Unternehmen und Geschäfte, alle Restaurants, Cafés, kulturellen Einrichtungen und Sportstätten mussten schließen, die Menschen sollen möglichst zu Hause bleiben und ansonsten einen Anstand von mindestens anderthalb Metern zu ihren Mitmenschen halten. Zugleich schotteten sich die meisten Länder gegeneinander ab, wurde der Flugverkehr weitgehend eingestellt, zerbrachen Lieferketten, wurden Exportverbote erlassen. Im Sommer 2020 konnten Wirtschaft und Gesellschaft wieder „hochgefahren“ werden, aber im Herbst und Winter 2020/21 gab es in den meisten Ländern wieder einen Lockdown (light).

Andere Wild Cards sind z.B. Tsunamis oder Erdbeben. Geologen können noch nicht vorhersagen, wann solche Naturkatastrophen eintreten werden, aber sie wissen, welche Orte das höchste Risiko tragen – wenn sie nahe der großen Erdbebengürtel rings um den Pazifik sowie zwischen Mittelmeer und Himalaya liegen. Als besonders gefährdet gelten z.B. Tokio (Japan), Kathmandu (Nepal), Istanbul (Türkei), Padang (Indonesien), Dehradun (Indien), Teheran (Iran), Rangun (Myanmar), Manila (Philippinen) und Karatschi (Pakistan).

Eine große Gefahr geht ferner von den weltweit ca. 1.500 aktiven, d.h. in den letzten 10.000 Jahren ausgebrochenen Vulkanen auf der Erdoberfläche aus. Auch hier lässt sich nicht voraussagen, wann einzelne Vulkane ausbrechen werden – und mit welchen Folgen. Als besonders gefährlich gelten die ca. 20 Supervulkane (z.B. bei Neapel oder im Yellowstone National Park gelegen). Bei ihrem Ausbruch käme es neben Primärschäden wie Erdbeben und riesigen Flutwellen zur Zerstörung der Pflanzenwelt durch die Vulkanasche – von dem Yellowstone-Ausbruch vor 630.000 Jahren war beispielsweise das gesamte Gebiet der heutigen USA betroffen – und zu einer weltweiten Abkühlung, da die vulkanischen Gase in der Stratosphäre die Sonnenstrahlen reflektierende Aerosole bilden.

Wild Cards können sogar im Weltall „beheimatet“ sein: Die NASA listet mehr als 1.100 potenziell gefährliche Asteroide auf, die auf der Erde aufschlagen könnten. Dazu gehört z.B. Apophis, der zwischen 2029 und 2036 die Bahn der Erde mehrmals kreuzen wird. Am 13. April 2029 wird er nur 29.470 Kilometer von der Erde entfernt mit einer Geschwindigkeit von 26.700 Kilometern pro Stunde vorbeifliegen. Mit einem Durchmesser von über 360 Metern ist der Asteroid zwölf Mal so groß wie der Meteorit oder Komet, der vor einem Jahrhundert einen großen Teil Ostsibiriens verwüstete. Würde Apophis auf der Erde aufschlagen, würden Tausende von Quadratkilometern pulverisiert. Der in die Atmosphäre geschleuderte Staub würde viele Jahre lang die Sonne verdunkeln.

Auf dieser Website soll es aber nicht um solche unvorhersehbare Ereignisse gehen, sondern um Trends, die mit recht großer Wahrscheinlichkeit auftreten werden.